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Bucklige Riesen

 

 

Als Roland das nächste Mal anruft, sitze ich gerade an Felix‘ Bett. Ich streichle die Füße meines Sohnes, ganz leicht auf der Decke, und schaue nichts Bestimmtes an. Mein Handy klingelt im Vorzimmer. Kurz überlege ich, nicht dranzugehen, dann stehe ich doch auf: Es könnte meine Mutter sein, oder eine ihrer Betreuerinnen.­

Es ist Roland. Ich habe seit zehn Jahren – waren es zehn? – nichts mehr von ihm gehört, aber seine Stimme erkenne ich sofort.

„Hallo, Marie. Ist es gerade ungünstig?“

„Nein“, sage ich. „Ich habe nur nicht mit dir gerechnet.“

Er lacht leise, am anderen Ende. „Ja, ich weiß. Ich bin wieder da.“

Ich bin wieder da. Vier kleine Worte, die lange Jahre der Abwesenheit einfach abschließen und zur Seite stellen. Ich lasse sie ein wenig auf mich wirken. Als es zu lange stumm bleibt in der Leitung, fragt Roland: „Bist du noch da? Marie, geht es dir gut?“

Ich lächle, wie zu mir selbst, und sage: „Ja, entschuldige. Es geht mir gut. Wo bist du?“

„In Wien“, sagt er. „Und du?“

„Ich auch. Ich war nie weg.“

Einige Jahre bevor Felix geboren wurde war Roland fortgezogen. Er hatte nicht beschlossen, eine Reise zu machen oder die Liebe zu finden – er wollte einfach weg und etwas jenseits von Wien kennenlernen, etwas Hartes und Schönes, wie er es immer ausdrückte. Deswegen war er nach Finnland gezogen, in einen Ort irgendwo im Wald, wo ihn wahrscheinlich nie irgendjemand besucht hatte, und er hatte versucht, ein neues Leben zu beginnen. Ein paar Mal habe ich eine Postkarte von ihm bekommen: aus Tampere, aus Vaasa. Sie waren immer schön und geschmackvoll, wie gedankenversunkene Fotografien eines Menschen, der die Gegend von Geburt an kannte. Roland schrieb nie viel, aber seine Worte waren immer wohlüberlegt. Ich merkte: Es geht ihm gut. Ich wusste nicht, ob er glücklich war.

Ich hatte ihn einige Jahre vermisst, wie man nur einen besten Freund vermisst. Mit einer dumpfen Hoffnung, dass sich nichts ändern würde, bis irgendwann klar wird: Die Veränderung ist unaufhaltsam.

„Es ist schön, deine Stimme zu hören“, sagte Roland. „Ich habe ein paar Mal angerufen, aber nie jemanden erreicht.“

„Woher, aus Finnland? Bei fremden Nummern hebe ich nie ab.“

„Du hast heute abgehoben.“

„Stimmt“, sage ich. „Meine Mutter hat jetzt eine 24-Stunden-Pflege. Ich muss erreichbar sein, falls etwas ist.“

„Oh.“ Roland klingt ein wenig betroffen, aber er wäre nicht er, wenn er nach meiner Mutter fragen würde. In Jahren der innigen Freundschaft hatte er mit meinen Eltern nie viel zu tun. Sie sind für ihn Fremde, so, wie seine Eltern für mich, und das ist auch ganz egal.

Ich sollte ihn einladen, fragen, wo er ist, ob wir uns sehen. Ich lausche kurz in die Leitung, dann ins Kinderzimmer hinter mir. Es ist leise, aber Felix wird von Sprechen nie wach.

Dann fragt er: „Können wir uns sehen?“

„Jetzt noch? Es ist schon nach neun.“

Ich merke, wie sich Furcht und ein warmes Gefühl der Vertrautheit in mir begegnen. Wenn ich versuche, Rolands Gesicht abzurufen, gelingt es mir kaum: Ich sehe nur Schemen, hellbraune Haaren, vorstehende Vorderzähnen. Nicht einmal bei seiner Augenfarbe bin ich mir noch sicher. Ich bin ein Mensch, der nie alte Fotos anschaut oder sich an Früher erinnert. Dieser wehmütige Schmerz hat mich immer nur gelähmt und für das Jetzt untauglich gemacht.

„Musst du morgen zur Arbeit?“

„Nein. Ich arbeite derzeit nicht.“ Wie einen zweiten Gedanken ergänze ich: „Ich habe ein Kind.“

Roland schweigt erst, länger, fast so, dass es unhöflich ist. Dann lacht er leise. „Wirklich?“

„Ja, wirklich.“

„Das … wow. Damit habe ich nicht gerechnet.“

Ich lache auch leise, erlöse ihn. „Ja, ich vielleicht auch nicht.“

„Bist du … Wohnst du mit dem Vater des Kindes?“

„Nein, wir wohnen allein.“ Wir wohnen allein. Erst, nachdem ich es gesagt habe, merke ich, wie komisch das klingt. Ich will nicht, dass Roland jetzt schon fragt, aber vielleicht wird er gleich fragen, deshalb sage ich: „Komm vorbei. Wir wohnen im Siebzehnten, in der Nähe vom Elterleinplatz. Felix schläft aber schon.“

„Dein Sohn?“

„Ja.“

„Danke, Marie. Ich fahre gleich los.“

 

Als Roland zum zweiten Mal anruft, rechne ich damit. Ich habe die Decken auf dem Sofa in Ordnung gebracht, gelüftet und das schmutzige Geschirr zumindest im Spülbecken gestapelt. Die Tür zu Felix‘ Zimmer ist angelehnt. Im Vorraum liegen so viele Schuhe, als würden drei Frauen hier wohnen – die Jahreszeit ist so wechselhaft, dass ich jeden Tag ein anderes Paar herauskrame. Sandalen. Sneakers. Gummistiefel.

Roland ruft an und ich sage: „Zweiter Stock.“

Mein Herz klopft, weil ich mich nicht erinnere und nicht weiß, womit ich rechnen soll. Dann steht er vor mir, und eine zaghafte, alte Innigkeit tritt mit ihm über die Schwelle.

„Hallo“, sagt er, und lächelt verlegen.

„Hi.“ Ich lächle zurück. Zehn Jahre sind wahrscheinlich zu lange, um sich zu umarmen, also trete ich nur beiseite und lasse ihn in die Wohnung.

Er sieht sportlicher aus als früher, aber blasser, und seine Haare sind länger. Er trägt jetzt eine Brille und eine Jacke aus Wolle, die viel bunter ist als alles, was er früher angezogen hätte. Wir gehen ins Wohnzimmer und setzen uns aufs Sofa. Roland lässt den Blick schweifen, betrachtet lang den Totenschädel auf meiner Kommode und zeigt dann aus der Tür. „Da drüben schläft dein Sohn?“

„Ja.“

„Ich würde ihn gern kennenlernen.“

„Wie lange bist du denn jetzt hier?“

„Für immer“, sagt Roland, wie aus der Pistole geschossen. Dann grinst er mich an. „Also, das denke ich jetzt. Es war schön, weg zu sein, aber es war nie mein Zuhause.“

„Ist das noch dein Zuhause?“ Ich merke erst danach, dass ich ein wenig forsch klang, ein wenig vorwurfsvoll. Du bist doch weggegangen, weil es das nicht war.

„Ich weiß nicht“, sagt Roland. „Ich habe noch kein Besseres gefunden. Vielleicht hat der Ort, wo man aufwächst, doch die größte Bedeutung für einen und man merkt das erst, wenn man weg war.“

Dann erzählt er von Finnland und davon, wie kalt es schon jetzt, Ende August, in Vaasa war. Vaasa liegt am Meer, ganz weit nördlich, und das Wasser umfließt so viele kleine Inseln, dass es aussieht, als würde der Wald wie eine Herde auseinandergetrieben. Roland erzählt, dass er in dicken Stiefeln durch die Bäume stapfte, um Elche zu schießen und Baumpflege zu betreiben. Er war einige Zeit bei verschiedenen Nationalparks angestellt, hatte Jägern gelernt und in der Gastronomie ausgeholfen. „Da oben gibt’s nicht viel“, sagt er, „und nicht viele Menschen. Die freuen sich über jeden, der anpackt.“ In Vaasa blieb er etwa drei Jahre, dann ging er noch weiter nach oben, nach Jakobstad, und mietete sich bei einer Witwe ein. Er arbeitete auf ihrem Hof für Kost und Logis und gab in der Schule ein paar Stunden in Englisch und Sport.

Irgendwann fragt Roland: „Hast du ein Bier?“

Ich nicke. „Im Kühlschrank im Schlafzimmer.“

Wenn er sich wundert, merkt man es ihm nicht an, und er fragt auch nicht, wo mein Schlafzimmer ist, sondern geht hinaus in den Vorraum und vorbei an Felix‘ Zimmer. Kurz darauf kommt er mit zwei Flaschen Bier zurück und hält mir eine fragend hin. Ich nicke und er öffnet beide mit einem Feuerzeug, das auf dem Tisch liegt.

„Warst du nie einsam?“ frage ich. Das Bier prickelt und fühlt sich wohlig berauschend an in meinem leeren Bauch. Es ist kurz nach Mitternacht und das Abendessen schon lange her. Ich frage Roland das, weil in seinen Erzählungen außer der Witwe noch keine Frauen aufgetaucht sind.

Er sieht mich rätselhaft an. „Nein, warum?“

„Ich weiß nicht.“ Das ist eine dumme Antwort, da man immer weiß, warum man so etwas fragt.

„Es gab ein paar Geschichten“, jetzt grinst er wieder auf seine bübische Art, „aber nie länger. In Finnland binden sich die meisten schon sehr früh.“

„Hm.“

„Und du? Was wurde aus Felix‘ Papa?“

Ich weiß nicht, wie ich es vermeiden soll, davon zu erzählen, ohne schroff zu wirken. Roland war so lange mein bester Freund, dass es natürlich sein sollte, davon zu erzählen, aber ich merke, wie weit die Erinnerung in die Ferne gerückt ist, sodass, wollte ich sie abrufen, der Teil des Gehirns hinter meinen Augen unscharf wird. Wie ein jahrelang unbenutztes Wort kratzt sie an meiner Kopfhaut, aber ich werde ihrer nicht habhaft.

Roland sieht mich noch immer fragend an. Ich nehme einen Schluck Bier und sage: „Es war etwas Einmaliges. Ich erzähle nie von ihm.“

„Wirklich?“ Sein Blick ist ungläubig. „Aber fragt denn niemand? Deine Mutter?“ Dann fällt ihm niemand mehr ein. Ich bekomme fast Mitleid und lächle ihn wieder an. In meinen Bauch fällt ein kalter, aber längst akzeptierter Stein, als ich sage: „Ich erzähle, er ist noch vor Felix‘ Geburt bei einem Unfall gestorben.“

Roland trinkt einen großen Schluck und schaut weg. Ich warte.

Er sagt, fragt nicht: „Aber das ist nicht wirklich passiert.“

„Nein.“

„Du hast noch nie jemandem davon erzählt, was wirklich passiert ist?“

„Noch nie.“

„Und mir?“ Er kränkt sich, womöglich kränkt er sich jetzt, und dabei war er zehn Jahre fort. „Wirst du es mir erzählen?“

„Vielleicht. Aber nicht mehr heute.“

Als Roland auf die Toilette geht, betrachte auch ich den Totenschädel auf der Kommode. Dahinter hängt ein Bild, das Felix’ Vater gemalt hat. Es war kein Geschenk für mich, sondern ich habe es im Netz gekauft, weil es so weise und traurig aussieht. Ein Mond über dem Meer, und am Strand große, dunkle Felsen wie Riesen mit gebeugten Schultern. Ich mag dieses Bild, weil es mich erinnert und dann wieder doch nicht. Wahrscheinlich ist es die einzige Art von Vergangenheit, die ich dulde, die ich in dieser Wohnung jemals dulden werde.

 

Wir trinken unser zweites Bier aus. Es ist halb zwei. Roland hat seine Füße auf den Couchtisch gelegt und sieht an die Decke. Wir haben viel geredet über Wien, über Finnland, über Dinge, die sich in den letzten Jahren ereignet haben. Er fragt immer wieder etwas über Felix, aber umschifft das Thema des unbekannten Vaters.

„Felix ist gehörlos“, erzähle ich irgendwann. „Die Ärzte wissen nicht warum. Es war eine unkomplizierte Schwangerschaft.“

Roland sieht mich an. „Manchmal ist das einfach so.“

„Ja“, sage ich. Es klingt richtig. „Manches ist einfach so, ohne Grund.“

„Bist du müde?“ fragt Roland.

Ich antworte, „ein bisschen.“

„Felix geht noch nicht in den Kindergarten?“

„Nein, ab Herbst erst.“ Ich rücke näher an Roland heran, sodass ich seine Körperwärme spüren kann. Es ist kein Begehren in dieser Empfindung, nur eine besonnene Sehnsucht nach Nähe und nach Gewissheit. Ich möchte sichergehen, dass er nun da ist und vielleicht wirklich dableibt, in dieser Stadt, in der ich bin. „Aber er wird um sieben wach werden und einen Wirbel machen, stell dich gleich darauf ein.“

Roland lächelt. „Das ist in Ordnung.“

Wir schweigen ein bisschen, dann spüre ich seine Haare an meiner Wange kitzeln und kurz darauf küsst er mein Ohr. Ich könnte ihn fragen: Wofür war das? Was hatte das zu bedeuten? Ich frage nicht. Ich schließe nur die Augen und warte, ob es noch einmal passiert.

„Sollen wir ins Bett gehen?“ fragt Roland mit leiser Stimme.

Obwohl ich weiß, was das bedeutet, habe ich keine Angst mehr. Nur vage, schemenhafte Ideen von einem Leben, das anders verlaufen ist.

„Ja“, antworte ich. „Das ist eine gute Idee.“

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